Vor hundert Jahren
1924
Aufbruch in Deutschland
Neu entstandene Werke von Erwin Hahs, Jan Thorn-Prikker, Willi Baumeister oder Alfred Hanf demonstrieren den Vormarsch der Deutschen Kunstavantgarde in der Zeit, als sich die junge Republik allmählich von den Folgen des Ersten Weltkriegs erholt. In keinem anderen Land erhalten Künstler mit expressionistischen, kubistischen oder neusachlichen Positionen derart viele öffentliche und private Aufträge für Kunst an Gebäuden.
Die mexikanische Muralistenbewegung nimmt Fahrt auf.
Bereits muss José Vasconcelos Calderón, der Promotor der Bewegung, seinen Posten als Erziehungsminister der revolutionären Obregón-Regierung räumen. Die mexikanischen Muralisten, die sich in ihren ersten Projekten 1921/22 noch an der europäischen Avantgarde oder Renaissance orientierten, finden jedoch allmählich zu ihrer Ausdrucksform. Diego Rivera arbeitet seit 1923 an der Dekoration der beiden Höfe des Erziehungsministeriums, die schliesslich den grössten Zyklus innerhalb seines Lebenswerks bilden wird.
Der Renouveau catholique beginnt in der Schweiz Spuren zu hinterlassen.
Neben der beginnenden öffentlichen Kunstförderung (seit 1919 in Basel und Zürich) schlägt sich – nicht nur in konservativen katholischen Regionen – die katholische Erneuerungsbewegung an Schweizer Wänden nieder. Die Schweizerische St. Lukasgesellschaft, die 1924 gegründet wird (nach dem Groupe Saint-Luc 1917 in Genf), bündelt erfolgreich die Kräfte von formal modern und gesellschaftlich konservativ orientierten Architekten und Künstlern wie Fernand Dumas, Hermann Baur oder Alexandre Cingria. Offen für künstlerische Experimente, ist die Vereinigung in der Lage, selbst den postfuturistischen italienischen Künstler Gino Severini aufzunehmen. Obwohl kaum im Rampenlicht, wird die Bewegung zwanzig Jahre später die schweizerische Wandbildkunst stark geprägt haben.
Im Jahr 1924 beginnt Augustin Meinrad Bächtiger seine Arbeit in den Gräberhallen des Friedhofs in Hochdorf in Kanton Luzern. 1948 werden dort 56 Gemälde entstanden sein, verfasst von acht Malern, davon 32 von Bächtiger, einschliesslich seines 1933 bis 1936 geschaffenenen herausragenden Werks «Dies irae».
Frauen in einer Männerdomäne
Die 20-jährige Mary Adshead führt im Londoner Stadtteil Shadwell ihr erstes von ca. 50 Wandbildwerken aus, die sie bis 1949 verwirklichen wird. Es ist die Zeit, in der Frauen in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz beginnen, in der öffentlichen Kunst Fuss zu fassen, vorerst allerdings oft in Bereichen wie der Textilkunst, im Bühnenbild oder der Inneneinrichtung. Im angelsächsischen Raum kommen Frauen bereits zuvor zum Zug. In der Schweiz ist die Bernerin Hanni Bay eine Vorreiterin der modernen Wandbildkunst, mit Werken in Chur (1920) und an der SAFFA 1928. In Mexiko wird Isabel Villaseñor 1929 (wiederum im Alter von 20 Jahren) als erste Frau (zusammen mit Alfredo Zalce) ein Wandbild ausführen.
Regionalismen, Nationalismen
Otto Baumberger, noch zehn Jahre zuvor verfehmt als Verfasser einer umstrittenen Raumdekoration für die Universität Zürich, hat bereits zu seiner lange währenden staatstragenden Rolle gefunden. 1924 schafft er für die St. Anna-Kapelle im bündnerischen Trun ein Zentenariumsdenkmal der Gründung des Grauen Bundes 1424. Dieses ersetzt ein entsprechendes Gemälde des Historienmalers Ludwig Kühlenthal (1805–1866) von 1836. Baumberger bleibt im Geschäft. 1939 wird er zwei nationale Appelle verfassen: den Fries «Das Werden des Bundes» im Höhenweg und das Sgraffito «Frei und auf ewig frei» in der Ehrenhalle der Abteilung Heimat und Volk der Schweizerischen Landesausstellung.
Die beiden Trends werden für die Wandmalerei der Periode bis 1945 bestimmend. Der Regionalismus wird zur inhaltlichen Leitlinie der US-amerikanischen Kunstförderung der Treasury Section, die hauptsächlich Postbüros mit Wandgemälden ausstattet. Mit unterschiedlichen Vorzeichen hat der Nationalismus in Ländern wie Mexiko oder Italien Vorrang.
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