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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

künstler: Richard Seewald

titel: Verkündigung. Das verlorene Paradies.

jahr: 1936

adresse: Cappella Santa Maria Annunziata, Ronco sopra Locarno TI, Schweiz

+: Fresken. 1945 nach Beschädigungen durch Erdrutsch abgebrochen

«Neben dem Friedhof von Ronco stand eine kleine Kirche mit dem schönen Namen S.S. Annunziata und verfiel seit Jahren. Sie war nämlich eines Tages entweiht worden dadurch, dass in ihr die Obduktion eines Mörders und seines Opfers vollzogen worden war. […] Eines Tages schlug nach der Messe der Pfarrer von Ronco […] vor, wir sollten uns doch alle zusammentun, um die Annunziata-Kapelle wiederherzustellen; die einen könnten den Schutt forträumen, die andern die Mauern ausbessern und ansonsten putzen und malen. Ich bot ihm an, die Kirche mit Fresken zu schmücken. […]

Ich malte, was das Programm mir befahl, die Verkündigung über dem Altar und drüber das Paradies, und aufstrebende Bäume bildeten Rippen der Kuppel. In ihrem Schatten lagen lavendelblaue Hirschkühe; den Himmel malte ich mit gebrannter Siena. Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben. Die Decke der Kirche hatte ich rosa streichen lassen und zwei vertiefte Medaillons darin blau. Dort malte ich Lilien und Rosen. Über einem kleinen Seitenaltar breitete die Madonna ihren Schutzmantel über Ronco aus. Ich hatte ganz Griechenland in die Bilder hineingemalt.

Aber draussen liess ich auf die rundgeschwungene Mauer der Apsis ein riesiges schwarzes Kreuz malen, das man bei gutem Wetter von Bellinzona aus sehen konnte. Ich tat das mit ungeheuchelter Freude in einer Zeit, in der man die Kreuze austilgte.

Meine Malerei gefiel meinen Mitbürgern. Blaue Hirsche? – Warum nicht? – Es sind doch Paradieshirsche. Der Bischof kam aus Lugano und weihte die Kirche neu.

Ich hatte nicht geahnt, dass diese kleine Kirche der Anlass sein würde zu der langen Reihe von Bildern, die ich für die Kirche Malen sollte. Sie selbst existiert nicht mehr. Ihr Ende sei hier erzählt. Durch den Bau einer Strasse unter ihr geriet der ganze Hang ins Rutschen. Er riss die alte Fahrstrasse, die an der Kapelle vorüberführte, mit sich, und sie selbst schien unmittelbar bedroht zu sein. Man riss sie ab. Nun führt über die Stelle, an der sie stand, die neue Strasse.»

Seewald 1977, S. 237–238