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Rückgriffe auf das Mittelalter in Belgien und Frankreich

Während der Muralismus-Debatte der Zwischenkriegszeit war eine gängige Frage, welche Kunst der Vergangenheit als Referenz für die Überwindung der Dekadenz der bürgerlichen Epoche (gemeint: des 19. Jahrhunderts) geeignet sei. Während in Italien der Rückgriff auf die Renaissance und die antike Klassik nahe lag, suchten Künstler in Frankreich wie Fernand Léger ihren Bezugspunkt eher im Mittelalter, einerseits wegen der neu geschätzten Ausdruckskraft der Werke der Epoche, anderseits wegen der vermeintlich idealen Kooperation praktisch anonymer Künstler, die das gemeinsame Werk (einer Kathedrale beispielsweise) über die Profilierung der eigenen Künstlerfama stellten. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs bildete sich in diesem Zusammenhang eine Bewegung zur Erneuerung der Tapisseriekunst, des "Freskos des Nordens", um Jean Lurçat (in Aubusson, Frankreich) und Edmond Dubrunfaut (in Tournai, Belgien) heraus. (Literatur: Golan, 2009; Guisset / Baillargeon, 2009)

Abbildung Fernand Léger, Litanies de la Sainte Vierge, Notre-Dame-de-toute-Grace, Assy, France

Abbildung Jean Lurçat, Chant du monde, Angers, France

Abbildung Forces murales (Edmond Dubrunfaut, Roger Somville, Louis Deltour) / Atelier Coopérative de Tournai, Le retour des champs, 1949—51, Centre de la Tapisserie, Tournai, Belgique

Die Kirche von Assy, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut, versammelt Werke einer Reihe von Künstlern der französischen Avantgarde der Zwischenkriegsjahre wie Georges Rouault, Georges Braque, Jean Lurçat, Fernand Léger, Pierre Bonnard, Jacques Lipchitz, Henri Matisse und anderen, die sich freiwillig der Vorgabe religiöser Themen beugten und ihre Werke der Kirche schenkten.

Lurçat und Dubrunfaut gingen davon aus, einer der Gründe für den Zerfall der Tapisseriekunst seit dem 16. Jahrhundert sei die immer grössere Bandbreite von Wollfärbungen, die zur Verfügung standen. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts konnten die Lissiers nicht mehr als 15 Töne nutzen, heute sind es etwa 4000. Bereits im 17. Jahrhundert gab es 1500 Tönungen, die die Tapisseriekunst zu einer Art teurer Variante der Ölmalerei degradierten. Dubrunfaut startete in seinen ersten Werken um 1940 mit einer Bandbreite von 70 Tönen, die er schliesslich auf 100 erweiterte. Das Ziel war, zu einer grösseren Ausdruckskraft zu gelangen, die die erzwungene Flächigkeit und die starken Kontraste sowie die für Dubrunfaut charakteristische Linearität hervorbrachten. Andeutungen von Volumen werden durch die "Hachure", gewobene Schraffuren, erzeugt.