dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)
verfasserin/verfasser: Oskar Bätschmann
titel: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem
isbn: 3-7701-4024-9
+: Köln 1997
«Richard Wagner stellte für Nietzsche [1888] die Zusammenfassung der Modernität dar, den Protagonisten der Dekadenz und der Erschöpfung, den modernen Künstler par excellence. In Wagners Musik hörte Nietzsche die drei grossen Stimulantia des Erschöpften, nämlich das Brutale, das Künstliche und das Idiotische, aus denen hervorgeht, was die Masse bewegt. Wagner, das erstaunlichste Theater-Genie, hat nach Nietzsche immer von der Wirkung, nie von der Musik aus gerechnet.» (S. 165)
«Als man [unter anderem anlässlich der venezianischen Biennale 1895] daran ging, die Irrtümer des Publikums zu beseitigen, die Kunst zu einer Angelegenheit aller zu machen, das Volk zur Kunst zu erziehen oder propagierte, alle sollten Künstler werden, als man die ästhetische Weltsprache der Kultur beschwor und die Kunst als Mittel zur Versöhnung der Völker betrachtete, war man einem europäischen Stil und Geschmack so nahe wie nie zuvor. Ein gemeinsames Kunstwollen einte Künstler und bürgerliches Publikum.» (S. 166)
«Alois Riegl setzte 1893 in den Stilfragen gegen die 'materialistische' Ableitung des Stils durch die Anhänger [Gottfried] Sempers das Postulat, die Kunstwerke seien das Resultat eines bestimmten und zweckbewussten 'Kunstwollens'. Damit bezeichnete Riegl nicht die Absicht von künstlerischen Individuen, sondern eine allgemeine, überindividuelle Ausrichtung auf einen geographisch und zeitlich begrentzen Stil. Zugleich konnte Riegl die historischen Wertungen, die mit dem geschichtlichen Verlauf von Anfang, Blüte und Verfall gekoppelt waren, aushebeln, die spätrömische Kunstindustrie neu als Resultat eines bestimmten Kunstwollens darstellen und den Rangunterschied zwischen dem Kunstgewerbe und der hohen Kunst einebnen.» (S. 167)
«Die Installationen [von Joseph Beuys] hatten die Funktion eines Katalysators, insofern sie eine Reaktion in Gang setzen sollten, ohne dabei selber verbraucht oder dauernd verändert zu werden. Nicht der Katalysator ist Kunst, sondern die chemische oder biochemische Reaktion, der Prozess von Wahrnehmung und Reflexion. Ebendeshalb konnte Beuys behaupten, jeder Mensch sei ein Künstler – nicht weil jeder Katalysatoren herstellen, sondern weil jeder am Prozess teilnehmen kann und diese Teilnahme für das Funktionieren der Kunst notwendig ist. […]
Die Behauptungen über Soziale Plastik und die dazugehörigen Suggestionen von Wärme- und Kraftströmen können nur einen Sinn haben innerhalb eines prozessualen Kunstverständnisses. Andernfalls sind sie Mystifikationen, d.h. Irreführungen. Das Problem ist, dass die zahlreichen Konzepte dieses [20.] Jahrhunderts zur Prozessualisierung von Kunst und zur Demystifikation des Künstlers gescheitert sind, weil sie eingeholt wurden von der erneuten Mystifikation des Künstlers oder von der Rückkehr der werkdefinierten Kunst mit allen urheberrechtlichen Konsequenzen. Bei Beuys sind die Überreste der Aktionen und die Installationen zu Kunstwerken geworden, die bezifferbare Werte darstellen, entsprechende Versicherungssummen erheischen, d.h. einen bestimmten Handels- und Repräsentationswert haben, weiter kapitalträchtiges geistiges Eigentum darstellen, deren Reproduktion gebührenpflichtig ist, und die sich trotzdem zur multiplen Nachfabrikation eignen. Dies ist ein Problem, das Anlass zur kritischen Untersuchung von prozessualem und werkbezogenem Kunstbegriff geben sollte oder zum Einsatz juristischer Mittel.» (S. 219)
«Franz Kafka ironisierte im letzten Kapitel des Romans Amerika den Aufruf des Grossen Naturtheaters von Oklahoma. Dem Helden des Romans, Karl Rossmann, verkündet an einer Strassenecke ein Plakat: 'Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!' Am Eingang des Glückortes, an den nur wenige kommen, wacht allerdings eine verzweigte Bürokratie, die Papiere prüft, Ausbildung und Fähigkeiten erfragt, Prätentionen entlarvt, endlich den Bewerber trotz falscher Angaben einstellt, allerdings nicht als Artisten, sondern auf der niedrigen Stufe des technischen Arbeiters. Dies veranschaulicht den Prozess der klassierenden Unterscheidung und Wertung durch ein geschlossenes System, das Offenheit propagiert und erst nachträglich seine Regeln und Kriterien anwendet.» (S. 225)