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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

künstler (in grau: assistent/in): Martin Disler, Irene Grundel

titel: Die Umgebung der Liebe

jahr: 1981

adresse: Württembergischer Kulturverein, Stuttgart

+: Acryl und Sprayfarbe auf Nessel, vier Teile, insgesamt 4,40 x 140,80 m.

Die Malschicht ist, durch den sehr flüssigen Farbauftrag auf das dünne Baumwollgewebe (Nessel), allgemein in einem guten und stabilen Zustand. Das Gewebe zeigt diverse kleinere und grössere, an zwei Stellen sogar etwas längere Risse im Bereich der Befestigungen und Bostitchklammern, die vermutlich bei der Abnahme des Bildes nach der Ausstellung in Stuttgart entstanden sind. Beim Aufrollen der enorm grossen Leinwand nach der Ausstellung sind diverse Knicke im Bild und Bildträger entstanden. 2007 wurde das Gemälde auf neue, wesentlich stabilere Rollen umgerollt und mit archivbeständigem Material verpackt.

Im Besitz der Gottfried-Keller-Stiftung, meist eingelagert im Sammlungszentrum des Schweizerischen Landesmuseums Zürich in Affoltern am Albis.

«Disler machte im Voraus keine Skizzen oder Studien. Die Vorbereitung zur Ausstellung bestand in einem permanenten und intensiven Austausch zwischen ihm und seiner Partnerin, der holländischen Künstlerin Irene Grundel, die er unmittelbar nach seinem ersten Stuttgarter Besuch in Amsterdam kennengelernt hatte. Zusammen besprachen sie, wie das Panorama aussehen sollte und stellten eine Liste von Motiven zusammen, die sie im Bild haben wollten. Sie kauften sich ein Buch zur Geschichte des Panoramas im 19. Jahrhundert und besuchten das Rundbild des holländischen Marinemalers Hendrik Willem Mesdag (1831–1915) in Den Haag, das eine Ansicht des Fischerdorfes Scheveningen zeigt. Dabei interessierte Disler in erster Linie die Funktion des Panoramas als populäres Massenmedium, der Umstand, dass das Publikum Eintritt bezahlte, um nur ein einziges Gemälde zu sehen. Das Malen des Bildes in Stuttgart stellte schliesslich den Höhepunkt und die Synthese eines monatelangen, gemeinsamen kreativen Prozesses von Disler und Grundel dar.

Nachdem sie mehrmals den leeren Saal in Stuttgart besichtigt hatten, trafen sie drei Wochen vor der Vernissage wieder in der Stadt ein. Der Boden des Saals war abgedeckt, die vier je 36 Meter langen Nesselbahnen lagen bereit. Disler und Grundel kauften die Dispersionsfarben ein. Um den Einstieg in den Malprozess zu finden, fertigte Disler unmittelbar vor der ersten der vier für die Malerei vorgesehenen Nächte – je eine pro Sequenz – hastig einige Skizzen an und gestaltete die erste Bahn auch in einem eher «zeichnerischen» Stil. Er begann mit dem einzigen zuvor festgelegten Element, der grossen schwarzen Vase, die als «Bild im Bild» mit Kringeln und Schlaufen die Bewegung des ganzen Panoramas schon vorwegnehmen sollte. Sie enthalte, wie Disler es ausdrückte, das «noch nicht ausgeschüttete Bild», das den Ausgangspunkt der Malerei markiert. Neben Grundel und Disler war ganz zu Beginn für kurze Zeit noch der Fotograf Bruno Hubschmid im Raum anwesend, um eine Serie Aufnahmen von der Entstehung zu machen. Disler begann mit Schwämmen, Spachteln und Besen auf die am Boden liegende riesige weisse Stoffbahn zu malen, während Grundel in der Mitte des Raums auf einer hohen Leiter sass und ihn mit Zurufen dirigierte.

Das Bemalen einer so grossen Fläche ohne vorbereitende Kartons und ohne die Möglichkeit der distanzierten Betrachtung verlangte vom Künstler ein ausgeprägtes Körperbewusstsein. In einem Interview Anfang 1982 schilderte Disler seine Erfahrung beim Malen in Stuttgart: «Auf diesem riesigen Tuch konnte ich wirklich tanzen, ich musste rennen. Du zeichnest zum Beispiel so eine Figur, da legst du 20 Meter zurück. Du siehst es nicht mehr, du spürst es nur noch. Die erste Bewegung war schon ziemlich verrückt und Irene hat gerufen: Grösser, grösser, du glaubst es nicht, es ist viel zu klein. Und ich wusste nicht, in welcher Richtung ich die Umrandung für die Vase überhaupt ziehen sollte. Aber plötzlich stellt sich der Körper ein. Du hast deine Schritte, du hast deine Armlänge.» Die Werkgenese war für ihn generell weniger ein rationaler, intellektueller Prozess als vielmehr ein körperlicher Vorgang. Um vorgeprägte Muster zu vermeiden, überantwortete er sich ganz der Mo- torik seines Körpers, den er als schöpferische Instanz einsetzte. Stundenlanges Tanzen war seine Methode, um – wie er es einmal formulierte – seinen «Körper zu schleifen wie ein Messer», das heisst, sich auf den Arbeitsprozess einzustimmen. Durchs Tanzen sei er zu den Bildern gekommen.

Dank der langjährigen Erfahrung mit der Sensibilisierung des eigenen Körpers konnte er in einer für ihn typischen Parforceleistung die erste Bahn nach sechseinhalb Stunden Arbeit beenden, für die zweite benötigten Disler und Grundel in der folgenden Nacht lediglich viereinhalb Stunden. Nach Vollendung des vierten Teils reisten die beiden ab und kamen erst zur Vernissage wieder nach Stuttgart. Jetzt sahen auch sie das Gemälde, mit dem sie sich ein Jahr lang beschäftigt hatten, zum ersten Mal «richtig», das heisst, nicht mehr als vier auf dem Boden liegende Bahnen, sondern als das den quadratischen Raum einfassende Panorama.» (Müller, S. 23)

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